Frank Le Galls Reihe um den Schreibtischhengst Theodor Pussel, der gerne mal um die Welt segeln und dabei düstere Familiengeheimnisse aufdecken möchte ist ganz klassischer Abenteuerstoff, gewürzt mit einem kleinem Schuß mystery. Die Vorbilder liegen auf den ersten Blick ganz deutlich bei Hergés Tintin, Milton Caniffs Terry and the Pirates und sagen wir mal Joseph Conrads Heart of Darkness.
Die Nähe zu Tim und Struppi ist bei einem frankobelgischen Comic natürlich kein Wunder, der Held ähnelt Tim auch äusserlich ein wenig, mit seiner Tolle aus drei Haaren. Nur kommt Théodore Poussin , wie er im Original heißt, statt aus dem frankophonen Teil Belgiens, aus dem westflämischen Sprachgebiet Nordfrankreichs: Dunkerque, dem Geburtsort des Korsaren Jean Beart.
Die Geschichte wurde zuerst in Spirou veröffentlicht und tatsächlich erinnern einen die Zeichnungen selbst eher an die ecole marcinelle der Spirou-Comics. Erst mit dem fortlaufen der Serie hält auch hier die ligne claire Einzug (besonders genial im zweiten Band: nur die Rückblenden sind in ligne caire gezeichnet), später kommen weiche Aquarellzeichnungen hinzu, so das wir es mit einem ganz aussergewöhnlichen Mix aller europäischen Comic-Schulen zu tun haben.
Das im chinesischen und südostasiatischen Raum angesiedelten setting, voller Piraten und Bürgerkriege spielt 1927 zwar noch vor dem Tim und Struppi Abenteuer Der blaue Lotus und dem Erscheinen der Terry und die Piraten Comicstrips, aber deren Einfluss ist nicht zu Übersehen. Mit der „Schicksal“ spielenden Figur des unheimlichen Herrn Novembers, der „Gräfin“ Kosina, die im Opiumrausch in die Zukunft blickt und auf ihr Ende wartet, sowie eines Baudelaire rezitierenden Piratenkapitäns wird dem ganzen noch etwas in Richtung Corto Maltese mit auf dem Weg gegeben (natürlich abzüglich der coolness des „Kapitäns ohne Schiff“).
Ich muss zugeben, dass es dieser Comic war, in dem ich das erste mal aus Les Fleurs du Mal gelesen habe und ganz besonders die „Satanslitaneien„, die hier von dem poetisch veranlagten Piratenkapitän vorgetragen werden, haben es mir angetan. In diesem Sinne versteht sich der Piratenkapitän auch als décadent und sieht sein Tagewerk als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und all ihrer Moralvorstellungen.
Theodor Pussel hingegen entlarvt die Piraten als hoffnungslose Romantiker und Operettenkapitäne, die abgesehen von ihren spleens nichts weiter als brutale rackets im unwahren Ganzen sind.
Eine mysteriöse Figur ist „Herr November“, der Theodor immer wieder über den Weg läuft und sich als sein „Schicksal“ ausgibt. Es ist nie wirklich gewiss, ob er ihn in seiner Suche nach seinem vermissten Onkel Kapitän Stien aufhalten oder behilflich sein will, ob er ihn beschützt oder ins Verderben stürzen will. Gleichzeitig ist er aber auch ein Charakter der ungemein komisch ist und für (böse) Scherze sorgt, allerdings dafür auch über Leichen geht.
Eingebettet ist das ganze in den Zerfall und Niedergang des europäischen Kolonialismus und Imperialismus und seine weitergeisternden fatalen Folgen für die Beherrschten und ausgebeuteten Menschen. Ein Blickwinkel, der uns wieder näher an Pratt’s Corto Maltese bringt. (Der Heizer auf der Kap Paderan heißt übrigens Pratt)
Allerdings wird das alles recht bürgerlich abgehandelt und der Klassenkampf stark in den Hintergrund gestellt zugunsten einer Kolonialbetrachtung, die in späteren Alben zeitweise in Kitsch zu versinken droht. Theodor Pussel ist einfach kein Revolutionär. Die Revolutionen in die er verwickelt wird, werden hier wie Naturkatastrophen dargestellt.
Er ist mehr der phantastische Träumer, der in den Strudel der Ereignisse gerissen wird, also das Gegenteil von Tim, aber wieder eine weitere Gemeinsamkeit mit Corto Maltese, nur daß er nicht immer so souverän die Situation meistert.
Neben dem lockeren Strich der Zeichnungen gefällt mir auch die Idee, dass die ersten sieben Seiten, also die komplette Einleitung, auf dem Tagebuch von Frank Le Galls Verwandten, eines gewissen Theodore C. Le Coq basieren, dessen Photographie vermeintlich die Rückseite des Bandes ziert.
Ob dies nun der Wahrheit entspricht, sei jetzt einfach mal dahingestellt; aber es sorgt für die richtige Abenteuer- und Fernweh-Atmosphäre und verleiht der Geschichte ihren zeitlichen Rahmen.
Kritik ist hier allerdings besonders bei dem ersten Abenteuer an der Darstellung von people of color zu erheben, die ganz dem rassistischen Comic-Exotismus des frühen Herge und Milton Caniff entsprungen zu sein scheinen. Natürlich sind die Europäer hier nicht als weisse Übermenschen dargestellt, allerdings wimmelt es von Schlitzaugenfratzen mit hervorstehenden Hasenzähnen. Dies ändert sich zwar allmählich im Verlauf der Serie, aber solche Darstellungen würde man bei Pratt vergeblich suchen.
Weder die sozialen Bewegungen, noch der grassierende Faschismus der späten Zwanziger spielen in dieser Geschichte eine Rolle. Im Gegenteil, wir erfahren relativ wenig über den kulturellen und sozialen background der Figuren. Genausowenig wird der sich im damaligen Europa immer mehr zuspitzende Antisemitismus in der Handlung selbst thematisiert.
Dafür wird dieser aber anscheinend von Le Gall reproduziert, wenn wir einen Blick auf Seite 5 werfen:
In einer Szene erscheint ein „drittklassiger Schneider“ , der direkt einer antisemitischen Karikatur aus dem Stürmer entsprungen zu sein scheint.
Wirklich widerlich! Es offenbart doch viel über den Zeichner Le Gall und die „guten katholischen frankobelgischen bandes dessines“, ganz in der Tradition von Abbé Vallez!
In den weitern Ausgaben bleiben wir von vulgär-antisemitischen Ausfällen dieser Art zum Glück verschont. Mir ist nicht bekannt, ob Frank Le Gall (jemals) einen dafür auf den Deckel bekommen hat, oder ob er sich tatsächlich davon distanziert und (ähnlich seiner Zeichen- und Erzählskills) weiterentwickelt hat.
Frank Le Gall
Theodor Pussel 1: Das Geheimnis des Kapitän Stien
EDITION COMIC ART im Carlsen Verlag 1990
im französischen Original: Capitaine Steene
copyright by Editions Dupuis, Charleroi 1987